Schreiben für Demokratie – die „Neue Sachlichkeit“ als literarische Strömung
Schreiben bedeutet auch Lesen. So wie in Kommunikation nicht nur Sprechen, sondern auch Hören von Bedeutung ist, braucht der Schreiber Input, die er verarbeiten kann. Zu Studienzeiten lernte ich, dass das Verhältnis in etwa acht zu zwei sein soll. Dabei sind acht Einheiten Input und nur zwei Einheiten Output vorgesehen.
Ein großes Ziel, wenn wir bedenken, wie viel Output von modernen Autoren gefordert wird, damit Sie das tägliche Brot verdienen.
Aber die alte Formel hat große Vorteile. Denn wenn die Schreibenden Zeit haben, Input aufzunehmen, werden die Inhalte einfach besser. Es bleibt dann nicht nur beim deskriptiven Verfassen von Texten, sondern es kommt zum vergleichenden, analysierenden, vielleicht sogar normativen Schreiben. Und es kommt zu eben dem immer deutlicheren Bild der Realität, die die Schriftsteller der „Neuen Sachlichjkeit“ ausgezeichnet hat. Ohne ausreichend Input dreht sich der Autor irgendwann nur noch um sich selbst und um die Vorgaben seiner Auftraggeber. Dabei können auch die Leser die Auftraggeber sein, sie bestellen, was sie lesen wollen.
Wer keinen Input bekommt, kann sich nicht äußern
In letzter Konsequenz geht das Kulturgut Sprache damit unter. Denn ein Austausch findet nicht mehr statt, wenn der Schreiber keine Angebote mehr machen kann, die er selbst entwickelt hat.
Aus diesem Grund sollten sich Autoren die Zeit nicht nehmen lassen, zu lesen, zu erforschen und zu ergründen. Und zwar nicht die Lesermeinung und die Textbriefings, sondern die Welt.
Marieluise Fleißer, ein Input für den 23.11.2016
Marieluise Fleißer wurde am 23. November 1901 in Ingolstadt geboren und verstarb 1974 in Ihrer Geburtsstadt. Ihr Werk kann als Input für den heutigen Tag dienen, denn sie gilt bis heute als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des vorigen Jahrhunderts.
1996 wurde eine Stiftung ihr zu Ehren in Ingolstadt gegründet. Auch ein Literaturpreis geht auf ihr Leben und Wirken zurück. Er ist mit 10.000 Euro Preisgeld verbunden.
Fleißers Leben begann als Tochter eines Schmieds in einfachen Verhältnissen. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie bereits mit 20 Jahren Theaterwissenschaften studieren konnte. Sie lernte Brecht und Feuchtwangler kennen und verfasste zahlreiche Theaterstücke.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ihre Schriften zeitweise verboten.
Fleißer hat neue Aktualität gewonnen
Fleißer scheint für mich nicht deshalb erwähnenswert, weil sie ein umfassendes Werk hinterlassen hat. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass Sie als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ auch eine aktuelle Botschaft hat. Diese literarische Stilrichtung erlebte ihre Hoch-Zeit in der Weimarer Republik. Es ging weg von Pathos und Idealisierung hin zum rein sachlichen Sprachstil, der tabulos und nüchtern über die Realität. Nicht viele Worte galten als Mittel, sondern ein klarer und kritischer Blick. Ein wenig erinnert die „Neue Sachlichkeit“ an die Bemühungen der Aufklärung. „Die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wenn Unmündigkeit begriffen wird als eine selbst gewählte Selbsttäuschung. Fleißers Ansatz zu Wahrheit ist wieder so aktuell wie damals. Und das Ziel der Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, nämlich die Begeisterung der Bevölkerung für Demokratie ist auch für Autoren unserer Gegenwart ein lohnenswertes Ziel.
Wer sich näher mit Marieluise Fleißer befassen möchte, findet hier Material von ihr und über sie.... mehr erfahren